Eine Ikone wie Rivella oder die Schweizerfahne
Wilhelm Tell, der Schweizer Held schlechthin, Symbol der Werte einer Kultur und Teil der nationalen Identität ... Wirklich?
Für den Anthropologen Fabrizio Sabelli handelt es sich weder um einen Mythos noch um eine Bezugsperson für die heutige Schweiz sondern um eine Ikone.
swissinfo: Wie würden Sie Wilhelm Tell definieren?
Fabrizio Sabelli: Es ist eine grossartige Konstruktion des Schweizer Geistes. Es wirkt, weil sich alle über die Qualitäten der konkreten Person einig sind.
Aber Tell ist nicht ein Mythos. Er ist nur ein Produkt, das der heutigen Schweiz nichts bedeutet.
swissinfo: Freiheit, Mut – können die Menschen in diesem Land mit diesen Werten noch etwas anfangen?
F. S.: Ich glaube nicht. Die Schweizer waren nie grosse Patrioten. Sie zogen nie als Volk gegen äussere Feinde in den Krieg.
Ausserdem ist Freiheit ein unbestimmter Wert. Ein Wert, der übrigens vor allem während der französischen Revolution seine Form erhielt. Es war nicht Wilhelm Tell, der sie erfunden hat.
swissinfo: Wenn Tell heute unbedeutend ist, wie erklären Sie dann, dass man ihn überall antrifft, in der Werbung, der Politik usw.?
F. S.: Weil Tell eher eine Ikone als ein Mythos ist. Er ist ein Sinnbild. Aber alle brauchen einen Bezug.
Man hängt an ihm, eher gefühlsmässig als intellektuell, wie man am weissen Kreuz auf rotem Grund hängt oder an - Rivella.
swissinfo: Das Schweizer Kreuz ist in den letzten Jahren zu einem Trendsymbol geworden. Ist auch Tell ein oberflächliches Produkt oder geht das Gefühl tiefer?
F. S.: Meiner Meinung nach ist die Verbundenheit mit Tell oberflächlich, wie das auch bei anderen Sinnbildern der Fall ist. Ich würde sogar sagen, dass einige Ikonen im Herzen der Schweizerinnen und Schweizer einen grösseren Platz einnehmen als er. Zum Beispiel die SBB.
Die Schweizerischen Bundesbahnen haben, wie früher die Swissair, eine fast totemartige Funktion. Man könnte auch sagen, es ist etwas, das vereint und dem man besondere Macht zuspricht.
Die schweizerische Identität setzt sich aus vielen Elementen zusammen (Rivella, Migros, SBB, usw.), die im Herzen der Leute ihren Platz haben. Das zeigt sich vor allem daran, dass viele an einem Mangel an Symbolen leiden, wenn sie im Ausland sind.
Ich habe unseren in Afrika lebenden Freunden tonnenweise Cenovis mitgebracht. Es fehlte ihnen nicht an Brotaufstrich, sondern an Identität.
swissinfo: Hat die Schweiz keinen Nationalhelden nötig?
F. S.: Doch, sicher. Man versuchte es mit General Guisan. Der Erfolg war bescheiden und hielt nicht an.
Wenn ich mich umschaue, sehe ich keine Schweizer Helden am Horizont. Und ich denke nicht, dass wir in der Geschichte einen finden.
In der Schweiz liebt man übrigens die Helden nicht besonders. Im Ausland wäre Roger Federer ein richtiger Star. Hier spricht man ihm das eher ab.
swissinfo: Wie lässt sich das erklären?
F. S.: Diese Art Figur braucht ein kollektives Einverständnis, um in den Rang eines Nationalhelden erhoben zu werden.
In der Schweiz gibt es keine Einheit. Man gehört zuerst zu seinem engeren Umfeld, erst nachher zur Schweiz.
Alles ist zerstückelt, auf Ebene der Sprachen, der Kantone, der Gemeinden. Das gilt auch für die Stammtische, in denen die Konstruktion einer solchen Figur ihren Anfang nimmt.
swissinfo: Wilhelm Tell hat im Herzen der Menschen in Uri einen grossen Platz inne - ist er vielleicht nur ein Regionalheld?
F. S.: Genau. Lokal kann eine Persönlichkeit die kollektive Vorstellung beeinflussen. Der Ort, wo sie herkommt, hilft den Leuten, in ihrem Kopf ein Theater ablaufen zu lassen, in dem ihre Persönlichkeit vorkommen kann.
In Uri ist Tell ein Mythos, weil ein gemeinsames Bühnenbild vorhanden ist. Ich würde mich sehr wundern, wenn das in Lugano auch möglich wäre ...
Interview swissinfo: Alexandra Richard
(Übertragen aus dem Französischen: Charlotte Egger)
In brief
Wilhelm Tell wird oft als Nationalheld, als Symbol der Schweizer Identität und ihrer Werte dargestellt.
Für den Anthropologen Fabrizio Sabelli handelt es sich um eine künstliche Konstruktion. Die Figur sagt nichts aus über das, was in der Schweiz heute gilt.
Sabelli stellt Tell in die Kategorie der helvetischen Sinnbilder oder Ikonen – etwa so wie das Getränk Rivella oder der Brot-Aufstrich Cenovis – und nicht in den anspruchsvollen Rang des Mythos.