Vor kurzem hat mir ein Bekannter mitgeteilt, er habe in einer Touristenagen-tur ein farbiges Plakat mit der prägnanten Aufschrift gesehen: „Kölner Dom: die Visitenkarte der Katholischen Kirche in Deutschland“. Am nächsten Tag fiel ihm der Slogan eines Studentenseminars an einer Theologischen Hochschule auf: „Deutschland. Hier hat man zum ersten Mal das Wort Gottes in der Muttersprache gelesen“. Also, dachten wir, hat jede Kirche ihre Visitenkarte, eine Reihe von Bil-dern und Tatsachen, an denen sie überall in der Welt eindeutig erkannt wird. Wir wollten gerne wissen, womit die Europäer die Tradition der Orthodoxen Kirche as-soziieren. Studenten, Unternehmer und Touristen beantworteten diese Frage unter-schiedlich. Einigen hat sich die Eigenart der russischen Sakralarchitektur eingeprägt. Ih-re Aufmerksamkeit fesselten Zeugnisse der Holzbaukunst und mächtige steinerne Kathedralen mit zwiebelförmigen Kuppeln. „Das gibt es sonst nirgends auf der Welt,“ sagten sie, „wir erkennen die russischen Kirchen gleich vom Aussehen her.“ Andere Gesprächspartner waren erstaunt, als sie in den russischen Tempeln bärtigen Priester im ungewöhnlichen langen Ornat begegneten. Noch mehr staun-ten sie, als sie erfuhren, daß diese Priester verheiratet waren und viele Kinder hat-ten. „Das gibt es nicht im Westen,“ behaupteten sie, „der russische Priester gleicht weder dem evangelischen Prediger, noch dem katholischen Pfarrer.“ Jemand richtete sein Hauptaugenmerk auf die Innenausstattung der Kirche, auf unzählige Ikonen und Kerzen. „In Ihren Kirchen ist sogar der Altarraum durch eine spezielle Ikonenwand abgesondert,“ meinten sie, „das haben wir sonst nir-gends erlebt“. Ein Gesprächspartner teilte uns mit, daß er in die Christi-Erlöser-Kirche zu dem prächtigen Kirchenfest der Ikone der Gottesmutter von Kasan eingeladen wurde. „Es wundert mich,“ sagte er, „daß in Ihrem Kirchenkalender viele Feiertage Ikonen geweiht sind. Marienbilder werden auch bei uns verehrt, doch werden von den Christen die den Heiligenbildern geweihten Tage nirgendwo so feierlich be-gangen. Außer in Rußland.“ Wie um seine Worte zu bekräftigen, zeigte uns der Ausländer die Einladungskarte, auf deren Außenseite die Ikone der Gottesmutter abgebildet war. „Da ist sie,“ dachten wir: „die Visitenkarte der Russischen Kir-che.“ „Für das Sinnbild der russischen Kirche gilt die Ikone der Gottesmutter. Was meinen Sie dazu?“ fragten wir unsere neuen Bekannten, die aus Deutschland zur Weiterbildung nach Rußland gekommen waren. Einer von den jungen Leuten, der an einer Reformierten Universität Theologie studiert hatte, sagte: „Es gibt ver-schiedene Religionen. Russen z. B. bringen den Bildern Opfer. Für einen Kalvinis-ten wäre es undenkbar“. Sein katholischer Kollege suchte sofort seine Worte zu entschärfen: „Die Eltern haben mich oft auf die Pilgerfahrt nach Lourdes mitge-nommen. Die Katholiken verehren die Gottesmutter ebenfalls. Man glaubt, von Ihr Heilung und Hilfe zu bekommen. Rußland hat eigene Traditionen, und wir verste-hen es“. Warum gibt es also in der russischen kirchlichen Tradition so viele Gedenk-tage von Ikonen? Die Ursache wurzelt in der Geschichte. Die Russen haben das Christentum aus Griechenland empfangen. In Grie-chenland ist die Verehrung der Gottesmutter-Ikonen ebenfalls sehr verbreitet. Die griechischen Kirchendichter haben Ihr viele anmutige Hymnen und feierliche Ge-sänge gewidmet, die während des Gottesdienstes vorgetragen wurden. Diese feier-lichen Andachten wurden später ins Russische übersetzt und gingen in die russi-sche kirchliche Praxis ein. Jedoch konnten die griechischen Traditionen an sich in Rußland nicht Fuß fassen, da die Festtage an bestimmte Ereignisse in der Ge-schichte des griechischen Kaiserreichs anknüpften. Die Russen kannten sich in die-ser Geschichte kaum aus, auch zerfiel bald das Kaiserreich und wurde von den Türken erobert. Zum Zeitpunkt des Aufstiegs Rußlands zu einem starken unabhän-gigen Staat gab es das frühere Griechenland einfach nicht mehr. Darum behielt das Kirchenvolk das Wesentliche an dem Kultus der Gottesmutter, indem es in Anleh-nung an denkwürdige Ereignisse der eigenen Geschichte allmählich seine besonde-ren Feiertage einführte. Die Russen eigneten sich das theologische und lehrmäßige Wesen der Verehrung der Gottesmutter an, dabei verzichteten sie aber entschieden auf eine blinde Nachahmung des griechischen Kirchenkalenders. Für einen orthodoxen Gläubigen ist die Gottesmutter das Sinnbild der Kir-che. Die Orthodoxie lehrt, daß Sich Gott in Ihrem Schoß einen Körper geschaffen hat, um Fleisch und Gottmensch zu werden. Auf die gleiche Weise werden, nach ihrer Meinung, die Seelen der Menschen, die Er erlöst, im Schoß der Kirche von Gott geschaffen und vervollkommnet. Ihr Verhältnis zu der Kirche wird von den orthodoxen Christen mit dem Verhältnis Christi zu Ihr als zu Seiner Mutter gleich-gezetzt, von Welcher Er einen Körper bekam, ernährt und erzogen wurde. Dieses Verhältnis ist ein tief persönliches. Ein orthodoxer Gläubiger betet zur Mutter Gottes als zu seiner eigenen Mutter und Beschützerin. Es ist ein charakteristisches Merkmal des orthodoxen Christentums. Wie in Griechenland, gehen die Gedenktage von Ikonen der Gottesmutter auf das Mittelalter zurück. Sie verweisen auf Ereignisse, die Jahrhunderte alt sind. Das Andenken dieser Ereignisse erlaubt es den Menschen, die Geschichte ihrer Heimat mit dem inneren Auge zu überblicken und sich als Teile eines einheitlichen Volks zu fühlen, dessen Wurzeln weit in die Vergangenheit zurückreichen. Ange-sichts des Maßstabs dieser Ereignisse verblassen die momentanen politischen und nationalen Differenzen. Den Menschen erschließt sich die Wahrheit, daß sie Zwei-ge von einem und demselben Baum, Brüder sind und ihr Brudergeist inmitten von Katastrophen und Mißverständnissen weder in Vergessenheit geraten noch verlo-rengehen darf. In dieser Sendung berichten wir über die zwei Ikonen, die in Rußlands be-sonders verehrt werden: die von Wladimir und die von Kasan. Die Ikone, die man in Rußland traditionsgemäß Wladimirskaja nennt, wurde in Wirklichkeit nicht in Rußland, sondern an der Mittelmeerküste gemalt. Nach der Überlieferung, die von einer Generation der Kirchenhistorikern zur anderen wei-tergegeben wird, ist der Autor dieser Ikone niemand sonst als einer der Evangelisten, der Apostel Lukas. Man kann sich vorstellen, daß dieses Heiligenbild seit je ein wahres Kleinod der griechischen Kirche war. Im zwölften Jahrhundert schenkte es der griechische Patriarch dem Fürsten Jurij (Georg), dem Gründer von Moskau. Der Fürst übergab die Ikone zur Aufbe-wahrung in ein Kloster. Später wurde sie in der Stadt Wladimir aufgehoben, daher kommt auch ihr heutiger Name. Seitdem waren gut zweihundert Jahre verflossen. Inzwischen hatte Rußland die furchtbare Eroberung durch Tataren überstanden. Der Moskauer Staat erstarkte und erfocht Ende des XIV. Jahrhunderts einen Sieg über die Eroberer. Zu diesem Sieg hatte in mancher Hinsicht die Zersplitterung des tatarisch-mongolischen Staates beigetragen, der von inneren Fehden zerfleischt wurde. Für die Wiederherstellung der mongolischen Großmacht in ihren früheren Grenzen trat Timur ein, der sich für einen Nachkommen des großen Khans erklärte und ein gigantisches Heer zusammenbrachte. Timur zeigte sich als begabter Feldherr und rücksichtsloser Krieger: Er hinterließ nach sich nur verbrannte Erde und verwüstete Städte. Timurs Heer betrat sogar Länder, die früher noch nie von den Mongolen erobert wurden. Die ganze Welt geriet in Aufregung angesichts der unvermeidlichen Begegnung mit der gigantischen Armee des brutalen Kriegsherrn. Vor allem waren aber die Russen um ihr Schicksal besorgt, die erst vor fünfzehn Jahren von den Tataren un-abhängig geworden waren. Rußland ist das Tor Europas, so mußte der erste Schlag die Russen treffen. Die Russen hatten keine Kraft, um den Eroberern von neuem Widerstand zu leisten. Ihre einzige Hoffnung setzten sie auf Gott und Seinen Beistand. Auf Befehl des Großfürsten und der Kirchenbehörden wurde aus Wladimir die wundertätige Ikone in die Hauptstadt gebracht, die einst der göttliche Apostel Lukas gemalt hat-te. Sowohl der Großfürst, als auch sein Hofadel und die ganze Bevölkerung Mos-kaus, Alt und Jung, beteten tagelang, ununterbrochen vor der Wladimirskaja-Ikone für die Errettung aus der Not. Sie baten Gott um nichts Bestimmtes, da ihr Verstand kein Mittel gegen das unabwendbare Verderben finden konnte. Dem ganzen Volk drohte Vernichtung – das hatten sich die Mongolen gegenüber den Völkern, die sich eigenwillig von ihrer Macht befreit hatten, zum Gesetz gemacht. Es wäre albern, auf Gnade zu hoffen: Timurs Verhalten gab kei-nen Anlaß zu einer solchen Hoffnung. Umsonst hätte man sich auch auf den Kampf vorbereitet: Das russische Heer war nicht in der Lage, sich mit dem größten Tyrannen zu schlagen, der anstelle von einst blühenden Städten des Orients Trüm-merhaufen hinterlassen hatte. Trotzdem hörten die Russen nicht auf, an den über-natürlichen Beistand zu glauben. Mit jedem Tag rückte die feindliche Armee immer näher an Moskau heran. Timur schlug sein Lager an der Grenze des damaligen Rußlands auf. Und da – geschah ein Wunder! Plötzlich änderte der grausame Eroberer seine Pläne, ließ es sein und führte das Heer in andere Länder. An diesem Tage wurde Rußland von der sicheren Zerstörung gerettet, nach der es sich nie wieder zu einem starken un-abhängigen Staat erholt hätte. Dieser Tag, der Tag der Fürbitte der Gottesmutter für Ihr Volk, gehört seit-dem zu den wichtigsten Feiertagen der Russischen Kirche. Dieser Tag wurde der Wladimirer Ikone der Gottesmutter geweiht, vor der das Volk am Vorabend seiner Ausrottung betete, von welcher er durch Ihre Fürbitte wunderbar gerettet wurde. Zahlreiche Wunder geschahen auf das Gebet der Gläubigen vor dem Wladi-mirer Heiligenbild hin. Darum wird die Ikone wundertätig genannt, d. h. Wunder wirkend. Es versteht sich natürlich, daß nicht die Bretter und Farben die übernatür-lichen Veränderungen in unserem Leben bewirken, sondern der allmächtige Bei-stand unseres Gottes und Erlösers, der auf die Gebete der Jungfrau Maria hin uns zuteil wird. Es ist unwichtig, so lehrt die Orthodoxe Kirche, vor welcher Ikon man betet, wichtig ist, nicht in seinem Glauben daran zu schwanken, daß man das Erbetene auch bekommt. Was die konkrete Ikon angeht, wurde ihr ein Feiertag geweiht, um bei dem Volk das Andenken an das große Wunder aufrecht zu erhalten, das ihm einst die Möglichkeit des Fortbestehens erhalten hatte. Sprechen wir nun auch über die Ikone der Gottesmutter von Kasan. Neben der Wladimirer Ikone wird sie in Rußland besonders verehrt. Im Unterschied von der Ikone aus Wladimir hat das Heiligenbild aus Kasan keine klare Vorgeschichte. Es wurde im XVI. Jahrhundert in der Stadt Kasan an der Wolga zufällig entdeckt. Darum heißt dieses Heiligenbild auch Kasanskaja. Gut zweihundert Jahre waren seit der wunderbaren Errettung Rußlands von der Eroberung durch Timur vergangen. Rußland blühte auf und entwickelte sich zu einem starken Staat. Es erstreckte seinen Machtbereich auf zahlreiche nationale Randgebiete einschließlich der tatarischen Staaten an dem Wolgafluß. Die Haupt-stadt eines dieser Kleinstaaten, Kasan, wurde zum südöstlichen Vorposten Ruß-lands. Der russische Zar wünschte weder eine Ausrottung der Muslime noch ihre gewaltsame Bekehrung zum Christentum. Trotzdem standen die Tataren den russi-schen Behörden feindlich gegenüber. Unter dieser Feindschaft litten auch die Or-thodoxen. Einmal sah die minderjährige Tochter eines russischen Offiziers im Traum die Gottesmutter, Die dem Mädchen mitteilte, daß neben dem Haus Ihre Ikone in der Erde vergraben lag. Die Gottesmutter bat das Mädchen, den Eltern davon zu erzählen und die Ikone auszugraben. Doch wollten der Vater und die Mutter die Worte des kleinen Mädchens nicht ernst nehmen. Danach hatte die Kleine noch zweimal denselben Traum. Die besorgten Eltern beschlossen, doch auf sie zu hören, und… gruben tatsächlich neben dem Haus eine Ikone der Gottesmutter aus, die in ein Stück Gewebe eingewickelt war. Diese Ikone hatten Christen versteckt, die hier einst gelebt hatten und von den islamischen Tataren bedrängt wurden. Die Moslems verbreiteten das Gerücht, das Christentum würde die gleiche brutale Ausrottung von Andersdenkenden mit sich bringen, die in dem tatarischen Fürstentum vor dem Ankommen der Russen betrieben wurde. Zahlreiche Heilungen und andere Wunder, die sich neben der Ikone vollzogen, belehrten die Tataren eines Besseren, so daß sich viele von ihnen zum Christentum bekehrten. Dieses Ereignis hat zur Beruhigung der tatarischen Stadt beigetragen. Seitdem gehört Kasan fest zum russischen Staatsverband. Die Worte des berühmten Lieds „die Wolga ist ein russischer Fluß“ wären früher unvorstellbar gewesen. Die Ufer der Wolga waren von Moslems besiedelt, und die Wolgastädte waren eindeu-tig rußlandfeindlich. Auch vor der Ikone der Gottesmutter von Kasan haben in den schicksalhaf-ten Augenblicken der russischen Geschichte Zaren, Kaiser und Feldherren mehr-mals gebeten. Gleich der Wladimirskaja-Ikone wird sie wundertätig genannt, d. h. Wunder wirkend. Allerdings ist das ungesunde Interesse für Wundertaten und das Wunder als solches dem orthodoxen Christentum fremd: für das wahre Wunder hielt die Orthodoxe Kirche immer und hält heute den Schatz des Glaubens, der in dem menschlichen Herzen durch die Macht Jesu Christi entdeckt wird.