Die Angst des Volkes vor dem Staat
„Entweder du schreibst oder du fürchtest dich“, sagt Vladimir Sorokin, russischer Kultautor und prominenter Kritiker der Ära Putin. Gestern las er bei den Klangspuren aus seinem neuen Buch „Der Zuckerkreml“.
Innsbruck – Die russische Zukunft sieht bei Vladimir Sorokin denkbar düster aus: In einem totalitären Regime, angesiedelt im Jahre 2027, geht im Roman „Der Tag des Opritschniks“ ein Handlanger der Macht seinem grausamen Tagwerk nach. Die Dinge haben sich auch 2028 nicht wirklich geändert: Nur lässt der 1955 geborene und mit Werken wie „Ljod. Das Eis“ oder „Der himmelblaue Speck“ zum Kultautor avancierte Sorokin in „Der Zuckerkreml“ das Volk zu Wort kommen. Die TT traf den Autor zum Gespräch.
Es heißt, der russische Premier Putin teilte unlängst bei einem offiziellen Treffen Schokolade mit einer Kreml-Prägung aus, womöglich, um seinen Anspruch auf den Präsidentensitz zu betonen. In Ihrem neuen Buch „Der Zuckerkreml“ regnet es Kreml-Miniaturen aus Zucker fürs Volk auf den Roten Platz. Hat hier die Realität die Literatur eingeholt oder war es umgekehrt?
Vladimir Sorokin: Das Leben ist immer härter als die Literatur. Aber es würde mich nicht überraschen, wenn in einigen Jahren zu Weihnachten tatsächlich kleine Zuckerkreml vom Himmel fallen würden. Russland ist voller Überraschungen, es passieren Dinge, die man nicht voraussehen kann. Seit Gogol wissen wir, wir leben in einem Land der Groteske.
In „Der Zuckerkreml“ scheint es, als ließe sich das Volk mit Süßem ganz gut über so manchen Missstand hinwegtrösten. Gibt es zu wenig Widerstand und zu viel Resignation?
Sorokin: Das Problem ist: Russland hat nie über eine längere Zeit eine Demokratie erlebt. Russland erinnert mich an eine große schlafende Bärin, das ganze Volk ist in ihr Fell gehüllt. Meistens schläft sie, dann verhält sich auch das Volk ruhig, aber wenn sie wach wird, beginnt sich auch das Volk zu kratzen.
So wie jetzt? In Moskau und auch in anderen Städten wird für Rede- und Versammlungsfreiheit demonstriert.
Sorokin: Die aktuellen Ereignisse erinnern mich an das Jahr 1983. Die Ära Breschnew war zu Ende gegangen, dann kam Andropow und es begann etwas Neues. Aber wenn jemand mir damals gesagt hätte, dass die Perestroika kommen würde und das ganze System kollabieren würde, hätte ich das niemals geglaubt. Niemand kann bei uns einschätzen, was kommt. Aber beim klar denkenden Teil des Volkes verursacht Putin jedenfalls Sodbrennen.
Sie entwerfen in Ihren Büchern eine Zukunft, die eigentlich eine Satire auf die Gegenwart ist. Zudem schöpfen Sie aus der Vergangenheit und den russischen Mythen. Empfinden Sie die als Hindernis für eine demokratische Zukunft?
Sorokin: Russland ist ein sehr mythologisiertes Land, unser ganzes Bewusstsein ist davon infiziert. Das Paradox liegt darin, dass die Ethik der Beziehung zwischen Staat und Volk sich seit dem 16. Jahrhundert nicht verändert hat. Der Staat und die Staatsmacht sind im Bewusstsein des Volkes etwas Geschlossenes, Dunkles, nicht Transparentes. Bei allen Menschen bis hin zum Oligarchen gibt es diese mythologische Angst vor der Staatsmacht. Das liegt vielleicht schon in der Sprache begründet: Das Wort „Macht“ ist im russischen Sprachgebrauch gleichzusetzen mit „Staat“.
Was bedeutet es heute, in Russland ein systemkritischer Schriftsteller zu sein?
Sorokin: In Russland war die Beziehung zwischen Schriftstellern und Staatsmacht immer sehr kompliziert. Und für viele Schriftsteller hat das ein schlimmes Ende genommen. Aber es gibt nur zwei Möglichkeiten: Entweder du schreibst oder du fürchtest dich.
Ihre Bücher sind voll von Gewalt und Sexualität, womit Sie auch schon Ihren Gegnern in die Hände gespielt haben: Eine nationalistische Jugendbewegung brachte Sie – vergeblich – mit dem Vorwurf der Pornografie vor Gericht. Warum greifen Sie in Ihrer literarischen Sprache zu so drastischen Mitteln?
Sorokin: Ich bin in einem Land aufgewachsen, in dem Millionen von Menschen getötet wurden und in dem die Vergewaltigung des Individuums zum Prinzip geworden ist. Der sowjetische Staat hat den Menschen alles genommen außer ihrer Sexualität. Denn da konnte er sich nicht einmischen. Abgesehen davon hat mich auch immer interessiert, warum die Menschen nicht ohne Gewalt leben können. Ich versuche eine Antwort zu geben, vielleicht auf nicht ganz konventionelle Art, und das ist für den Leser oft schockierend.
Spielt die Musik dabei auch eine Rolle? Vor einigen Jahren haben Sie das Libretto zur Oper „Rosenthals Kinder“ geschrieben, jetzt arbeiten Sie am Libretto zu einer Oper für Olga Rayeva.
Sorokin: Nein, ich denke, die Musik steht über allem. Sie ist die höchste aller Künste. Man kann sie nicht benutzen. Sie lässt sich nicht so leicht vereinnahmen.
Das Gespräch führte Ivona Jelcic